REHABILITATION

14 Jahre waren seit dem Tod meines Vaters vergangen. Eine neue Zeit stand vor der Tür – ein neues Tauwetter anscheinend – aber wie lange es anhalten würde, wußte niemand zu sagen. Ich beschloß, an die Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR zu schreiben, um das Schicksal meines Großvaters zu klären. Drei Monate vergingen, ohne das etwas passierte. Schließlich wurde ich angerufen. Eine mir unbekannte Stimme teilte mir mit, am Folgetag beim KGB vorsprechen zu sollen. Für kurze Zeit wäre ich vor Angst fast gestorben. Dann erinnerte ich mich meines Antrags, stellte die logische Verbindung her, und ging zur vorgegebenen Zeit über die langen Flure unseres Bezirks-KGB in das genannte Büro. “Haben Sie an die Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR geschrieben?”, fragt mich der Untersuchungsbeamte. Ich bejahe. “Sie müssen sich an den Gebiets-KGB in Winniza wenden, Oberst Zhejd. Bewahren Sie die Fahrkarte auf. Wir übernehmen die Kosten.” 

Also fuhr ich am folgenden Morgen nach Winniza - in die Stadt meiner Kindheit.
Von Oberst Zhejd wurde ich freundlich empfangen. Ich war der erste, der sich mit einem solchen Anliegen an ihn wandte. Wahrscheinlich hielt er mich für ziemlich naiv. Ich müsse mindestens einen Zeugen vorweisen können, der meinen Großvater gekannt hat, sagte er mir.
Ich quartierte mich bei unserem Nachbarn Pawel Borissowitsch ein, einem einarmigen Rechtsanwalt. Vor seinem Haus stand eine Tischtennisplatte. Etwas weiter hing zwischen zwei Pflaumenbäumen eine Hängematte, in der ich in meiner Kindheit die wundersamsten Träume geträumt hatte. An der Ecke des Hauses stand ein verrosteter Bottich, in dem irgendwann einmal meine Schildkröte gelebt hatte. Die Bäume waren gewachsen, ich selbst aber auch, so daß sich seit jener Zeit eigentlich kaum etwas verändert hatte.
Am Morgen ging ich zu Tante Tonja, der einzigen Zeugin, die meinen Großvater noch selbst gekannt hatte. Ihr Haus stand auf dem Gipfel eines langgezogenen Hügels, der zu einer Schlucht von malerischer Schönheit hin abfiel, durch sich zwischen Granitsteinen ein Bach mit reinem Quellwasser schlängelte. Ich ging an windschiefen Holzzäunen vorbei, hinter denen der Flieder blühte, dessen Duft mich betäubte und wie berauscht werden ließ.
Tonja verblüffte mich immer wieder aufs Neue. In ihrem kleinen Häuschen, zwei Zimmer, stand ein prächtig geschnitztes Bett, daneben eine nicht weniger prunkvolle Kommode, offensichtlich von gleicher Hand und eines jeden Museums von Weltruf würdig. Aufbewahrt wurde darin nicht Geschirr, sondern kunstvoll gebundene Bücher. Das Bett, in dem zweifellos ein König, zwei Herzöge und ein Hetman gezeugt worden waren, war von Hundebissen ganz abgewetzt. Mindestens fünf Hunde begrüßten mich, dazu etwa acht Katzen und vier Ziegen. Auf der Wohnung lag eine dichte Schicht Wolle und Haare, die einen an einen frostigen Spätherbst denken ließ, wenn dichter Rauhreif alles bedeckt.
Am dritten und letzten Tag meines Aufenthalts in Winniza ging ich wieder zu Oberst Zhejd. Er ließ mich für einige Minuten allein in seinem leeren Büro und tauchte dann mit einer vergilbten Mappe in der Hand wieder auf, auf der mit rotem Stift vermerkt war – “erschießen”. Dann begann er mit einfachen Worten, die Ereignisse für mich zu kommentieren. Mein Großvater war angeklagt worden, Helfershelfer der ukrainischen Nationalisten zu sein, hatte mit keinem Wort seine Schuld eingestanden und keine Namen von Mittätern genannt. 13 Tage später war das Urteil im Innenhof des KGB von Winniza vollstreckt worden.
Mir wollte das nicht in den Kopf. Mein Großvater war Russe, geboren im Gouvernement Orlow. Ihn des ukrainischen Nationalismus zu beschuldigen, war mehr als absurd.
1937 war im Hof des KGB nicht nur mein Großvater erschossen worden. Was den anderen vorgeworfen wurde, weiß ich nicht, aber als später die Faschisten kamen, wurden die Leichen ausgegraben. Und viele der Bewohner der Stadt, die damals ihre Verwandten identifizierten, wurden später wegen Verleumdung der Sowjetmacht nach Sibirien deportiert.
Meine Großmutter hat bis zu ihrem Tod auf die Rückkehr meines Großvaters gehofft und gewartet. Man hatte ihr gesagt, er sei deportiert worden. Ohne das Recht auf Korrespondenz. Und außerdem hatte man bei seiner Verhaftung sein Sparbuch beschlagnahmt, auf dem für damalige Verhältnisse große Summen waren. Seine Arbeiten waren auf Ausstellungen in Spanien und Finnland verkauft worden.
Ich besuchte einen alten Klassenkameraden, wir tranken Wodka, und ich erzählte, was ich erfahren hatte. Und lehnte mich an seine starke Schulter und weinte. Leise, um seine Frau und seine Kinder nicht aufzuwecken.
Nachts hörte mein Nachbar, der einarmige Rechtsanwalt, vor seinem Haus Lärm, und schleppte mit seiner einen Hand meinen fast leblosen Körper ins Haus.
Am nächsten Tag kaufte ich mir eine Fahrkarte auf eigene Kosten. Für den Zug, der mich ohne Zwischenstops – Faschismus, Kommunismus, Nationalismus – davonträgt im Leben. Und aussteigen werde ich erst dort, wo auf mich Freunde warten, oder um Bier und Zigaretten zu kaufen.

Stryski-Park

In der sechsten Klasse lernte ich noch schlechter als sonst. Jeden Morgen wurde streng kontrolliert, ob Ohren, Fingernägel und Kragen sauber waren, wir Hausschuhe und rotes Halstuch dabei hatten und unsere Eltern das Schulbuch auch ordnungsgemäß unterschrieben. Eine Art Gefängnis mit Übernachtung zu Hause.
Bevor ich morgens das Haus verließ, griff ich rasch in meines Vaters Manteltasche und expropriierte, je nachdem wieviel ich fand, einen Teil seines Kleingelds. Dann schaute ich kurz im Keller des gegenüberliegenden Hauses vorbei, wo in einem Holzverschlag aus ungehobelten Brettern mein Freund lebte, Vollwaise und Straßenkind, gab ihm das Kleingeld fürs Essen, beneidete ihn ob seiner Freiheit und machte mich auf in die Schule.
Einmal aber war in der Tasche kein Kleingeld und einen ganzen Rubel zu nehmen hatte ich Angst. Als ich ohne eine Kopeke und zu Tode betrübt zu meinem Freund, dem Straßenkind, kam, wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Er aber nahm es mir kein bißchen krumm und schlug vor, zusammen auf Jagd zu gehen. Also gingen wir durch einen kleinen Birkenhain zum besten und schönsten der “Konstruktivisten”-Häuser, von denen es bei uns in der Nachbarschaft einige gab, und brachen dort in die Keller ein. Mein Freund wählte schnell einen der Keller aus und öffnete ihn geschickt mit einem Federmesser. Im Licht eines brennenden Streichholzes sah ich unzählig viele Konserven jeglicher Art auf Regalen herumstehen. Während mein Freund schon begann, sich die Konserven unter das Hemd zu stopfen, nahm ich mir auf Verdacht eine Konserven und fragte, was das denn sei. “Ananas”, antwortete er.
Richtige Ananas hatte ich bis dahin nur ein einziges Mal zu essen bekommen. Meine Vater hatte sie mitgebracht, als er nach einem Künstlerkongreß im Kreml aus Moskau zurückgekehrt war. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen.
“Was denkst du”, fragte ich, “wessen Keller wir leergeräumt haben?” “In dem Haus wohnt ein General und wenn man bedenkt, das es Ananas nirgends zu kaufen gibt, ist die Sache wohl klar”, bekam ich zur Antwort.
Wir vergruben die Konserven auf einer Anhöhe unweit unserer Häuser und ich konnte es gar nicht erwarten, bis endlich mein treuer Freund Krasnogolow aus der Schule zurückkam und ich ihm alles erzählen konnte. Dieser war Musterschüler und schlau wie ein Fuchs. Mehr als einmal hat er mich ordentlich reingelegt. Ohne lange überlegen zu müssen, unterbreitete er mir seinen Plan:
Zuerst versteckten wir unsere Ananaskonserven an einem anderem Ort. Dann dachte er sich eine Geschichte aus, mit der sich die Ware legalisieren ließ: Die Mutter eines gewissen Kolja sollte in eine andere Stadt umziehen, weswegen sie fast alles verkaufte, darunter auch die Ananasbüchsen für 50 Kopeken das Stück. Unsere Eltern kauften uns die Geschichte anstandslos ab und gaben uns Geld für Koljas Mutter. So konnten wir zu Hause völlig legal Ananas essen, ohne dabei zu vergessen, unseren Verwandten auch ein Stückchen zum Probieren zu geben.
Das zweite und letzte Mal, daß in der Tasche meines Vaters kein Kleingeld war, ging ich mit meinem Freund in den Stryski-Park.
Dieser war 1879 von dem berühmten Gartenarchitekten Arnold Rering geplant worden und einen besseren Ort für die Erholung konnte man sich in Lwow gar nicht vorstellen.
Auf dem Bild meines Vaters ist genau jener Ort dargestellt, zu dem wir jetzt gingen. Nur meinen Kinderwagen, meine inzwischen verstorbene Großmutter und meine Mutter muß man sich natürlich wegdenken.
Überhaupt war außer uns zu jenem Zeitpunkt niemand im Park.
Ich mußte mich hinter den Sträuchern verstecken und Wache halten, während mein Freund flink in einem riesigen Blumenbeet verschwand.
Nach einiger Zeit tauchte er, einen riesigen Strauß Iris in Händen, wieder auf, verschwand erneut, holte noch einen Strauß, und das mehrere Male. Dann verließen wir vorsichtig den Park und gingen zum nahegelegenen Stryski-Markt, um unsere Beute dort zu verkaufen. Mir rutschte bei dem Gedanken, daß mich irgendwelche Bekannte meiner Eltern auf dem Basar sehen könnten, das Herz in die Hose. Überhaupt war mir die ganze Aktion überaus peinlich. Zum Glück kauften die Leute, als sie sahen, daß wir zwei offensichtlich das erste Mal auf dem Markt waren – aus Not –all unsere Blumen innerhalb von nur 20 Minuten.
Seit dieser Zeit hasse ich Iris.
Wenn ich mich später in jedem Spätherbst wieder aufs Neue bis über beide Ohren verliebte – im Herbst sind die Frauen bekanntlich besonders schön – habe ich ihnen immer nur Chrysanthemen geschenkt, deren Duft ich bis heute mit unendlicher Liebe und Tod assoziiere.

Der Bunker

Jugoslawien spreizte für mich seine Ufer der Donau, die damals schon begannen, sich in das linke und das rechte zu teilen, und jeder wollte natürlich recht sein. Es war, als hätten wir schon lang aufeinander gewartet. Keine kopflose, plötzliche Liebe, die nach einer Woche schon wieder vergeht, sondern ein tiefes gegenseitiges Verstehen, das keine Worte und Fragen braucht, still wie ein Holzklotz, der ohne Zwang vor sich hin treibt. Die Strömung spülte mich ans serbische Ufer, in eine kleine Provinzstadt. Bald hatte ich erste Bekannte. Ein Ungar, mit dem ich Sterlet fing, den zu fischen eigentlich gar nicht erlaubt war, aber sein Bruder war bei der Fischereiaufsicht. Den Fisch brachte ich der Familie, die mich beherbergte, und beobachtete, still in der Ecke sitzend, ihre Reaktion. Sie versuchten sich zu erinnern, wann sie einen solchen Fisch letztmals gesehen hatten.
Als die Nachbarn erfuhren, daß ich Künstler bin, zeigten sie lebhaft Interesse, halfen mir mit den Keilrahmen, brachten mir Ölfarbe als Geschenk, die schon seit Jahren nutzlos bei ihnen herumlag und kauften meine Arbeiten - eher aus Achtung mir gegenüber übrigens, denn von Kunst verstanden sie wenig. Mit einem Wort – ich hatte die besten Bedingungen zum Arbeiten.
Ein befreundeter Pope fand in mir einen interessanten Gesprächspartner und lud oft zum Essen ein. Wir tranken Raki und diskutierten über Religion und Philosophie. Ich interessierte mich damals für die altrussische kanonische Ikone und machte selbst recht viele Arbeiten – keine kanonischen Ikonen natürlich, eher assoziativ, fast abstrakt. Einmal bat ich ihn, nachdem wir wieder einmal zusammen gegessen und Raki getrunken hatten, einige meiner Arbeiten in seiner orthodoxen Kirche zu weihen. Er war grundsätzlich ein progressiv denkender Mensch und stimmte also nach einigem Überlegen zu. Meine Arbeiten hingen in seiner Kirche den Vorschriften entsprechend zwei Wochen mit der Vorderseite gegen die Wand, er schrieb, wer die Ikone geweiht hatte und setzte sein Siegel darauf. Eine Arbeit nach seiner Wahl ließ ich ihm als Geschenk.
Von seiner Seite bedurfte es einigen Mutes, denn eigentlich dürfen nur solche Ikonen geweiht werden, die auch kanonisch sind. Und ich fühlte mich wie ein richtiger Revolutionär in der Kunst.
Die Flamme des Kriegs zwischen Serbien und Kroatien loderte mit jedem Tag höher und ich beschloß, mich davonzumachen, solange es noch nicht zu spät war. Praktisch unmittelbar vor Ausbruch des richtigen Kriegs fuhr ich nach Krakau zu meinem alten Freund Lukasz. Diese meine Lieblingsstadt hatte ihre Tore schon lange für mich geöffnet. Bei Lukasz wohnte die reizende Monika. Um die beiden nicht zu stören, wurde ich in der Wohnung ihrer Eltern einquartiert, die bereits seit langem in Schweden wohnten.
Die Wohnung lag wenige Schritte vom Rathausplatz. Alle Freunde von Lukasz und mir gingen damals ins Art-Café “Krzistofery”, einer gemütlichen Kellerkneipe im Zentrum der Stadt. Monika verdiente sich hinter der Theke etwas hinzu, ich trank ausschließlich Gin Tonic und führte zwanglos Gespräche. Das Leben brodelte, ich befand mich mitten im Zentrum und lernte jeden Tag neue sympathische Leute kennen. Einmal kam das Gespräch auf meinen Aufenthalt in Serbien und ich erzählte von meinen dortigen Arbeiten, die ich nach Krakau mitgebracht hatte. Wir saßen in recht großer Runde zusammen. Eine sympathische junge Polin zeigte Interesse an meiner Erzählung und schlug vor, meine Arbeiten im Schloß Pszegorzal auszustellen, sie sei seit kurzem Kuratorin der dortigen Galerie und könne die Ausstellung organisieren.
Am nächsten Tag fuhren wir schon zu dem Schloß, zehn Kilometer außerhalb Krakaus gelegen und während des Krieges Hauptquartier des Generalgouverneurs Frank. Im Keller war ein Bunker eingerichtet, bestehend aus 9-10 Zimmern, durch schwere, etwa 50 cm dicke Stahltüren voneinander getrennt. Nachdem ich zuvor schon im Lenin-Museum von Lwow unter dem Titel “Defloration” ausgestellt hatte, schien mir dieser Ort für meine nächste Ausstellung ideal geeignet – eine Art Zyklus durch Orte und Länder früherer Diktatoren.
Die Galerie gehörte wie auch das darüberliegende Restaurant dem Kurden Swijad, der die Ausstellung auch sponsorte. Am Tag vor der geplanten Eröffnung brachte ich mit zwei Freunden meine Arbeiten in den Bunker. Nachdem ich die Arbeiten entlang der Wand aufgestellt hatte, versuchte ich, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Er krümmte sich wie auch der folgende. Dann wurde mir die Vergeblichkeit weiterer Versuche bewußt. Die Zeit lief uns davon, eine Bohrmaschine war nicht zur Hand und auf der Suche nach einer Lösung begann ich im Schloßpark umherzugehen. Auf dem Rückweg ging ich durch das Restaurant und schaute kurz in den Abstellraum, wo ich einige rote Kästen mit leeren Coca-Cola-Flaschen, sowie Regale aus vielleicht zwei Meter langen Kiefernbrettern entdeckte. Das war die Lösung. Wir trugen die Kästen mit den leeren Flaschen in den Bunker, banden eines der Bretter daran und befestigten daran meine Arbeit. Das klappte eigentlich gut, war aber nicht gerade stabil. Also füllten wir schließlich die Flaschen mit Wasser. Irgendwas aber fehlte noch. Schließlich steckten wir in die Flaschenhälse noch Kerzen und machten sie an. Wir standen schweigend, wie verzaubert vor diesem Schauspiel. Dann kamen die Galeristen und Swijad. Niemand sagte auch nur ein einziges Wort. Die Gefühle, die über uns kamen, sind nicht zu beschreiben. Eine Beerdigung? Als würden wir zwischen Grabplatten und Kerzen jemanden begraben. Aber wen? Die Multikultur der Coca-Cola vielleicht, den despotischen Ort des Diktators? Oder im Gegenteil mein Werk, die roten Kästen als Kränze auf meiner utopischen Jugend und der Bunker als Ort der Vollstreckung des Urteils?
Aber das Feuer tat seine Sache – die Kerzen brannten feierlich nieder, das vielfarbige Flackern kroch wie süße Kinderträume über die kalten Betonwände des Bunkers. Ein flüchtiger Gedanke soufflierte mir, ein Spieler zu sein. Einen passenden Partner findest du immer. Und Meisterschaft ist durch und durch individuell. Versuche zu spielen. Wenn du ein Spieler bist. Woraufhin uns der Kurde Swijad in sein Restaurant einlud.

Paradies

Mein Paradies erreichte der Zug am frühen Morgen.
Fünf Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Meinem Vater hatte ich kein Wort gesagt, hatte mir von meinem Stipendium eine Fahrkarte gekauft und war einfach losgefahren. Im billigen Großraumwaggon überkamen mich seltsame Gefühle und es fröstelte mich. Meine Gedanken wurden schneller als der Zug ohne Halt in die Vergangenheit getragen. Es hatte den Anschein, daß ich wie eine von einer dünnen und brüchigen Eisschicht überzogene Pfütze war, und jeder zufällige Passant, der mich berührte, diese dünne Schutzschicht zertrampelte. Dann erinnerte ich mich unwillkürlich der Düfte der Kindheit – blühende Linden, das Sonnenblumenöl, mit dem meine Mutter gekocht hatte, unser Kerosinkocher, schwarze Johannisbeeren, und alles zusammen nach einem warmen Sommerregen – der Duft von Flieder und Dill, Petersilie, Zwiebeln, Hühnerdreck, Kirschen und Chrysanthemen. Dann fühlte ich mich gebraucht und geschützt, und das dünne Eis meiner Angst schmolz dahin.
Der Zug erreichte die Stadt am frühen Morgen. Als ich zum Fluß ging, tauchte ich in dichten Nebel und tastete mich intuitiv zum Ufer vor. An der Biegung des Flusses setzte ich mich unter meine zweihundertjährige Lieblingslinde. Der Bug war wie erstorben. Wolken zogen vorbei. Die Luft vibrierte unter dem Singen erwachender Vögel. Auf der Anhöhe in meinem Rücken erhob sich ein Buchenwald, ein sicherer Rückzugsort, auf dessen Mooswiesen Steinpilze sprießten.
Gelegentlich fiel das Plätschern der aus dem Fluß springenden Fische in den Vogelgesang, und ich schaute auf die Kreise im Wasser. Mir kam der Gedanke, daß es ein Paradies für alle einfach nicht geben kann. Kann man sich ein Paradies für alle Kolchosbauern vorstellen (auch unter ihnen wird sich immer wenigstens einer finden, der nicht “normal” ist)? Oder ein Paradies für alle Ukrainer? Und wenn du Individualist bist? Was für ein kollektives Paradies kann dich dann befriedigen? Keines. Das heißt dein Weg ist in die andere Richtung – in die Hölle. Was aber, wenn du in deinem Individualismus weniger gesündigt als andere in ihren Kollektiven, Parteien, Blöcken, Armeen und Sekten – was dann? Aber wer mehr und wer weniger, ist zu entscheiden uns nicht gegeben.
Der Bug trug meine Gedanken davon. Vor mir erhoben sich die hohen und steilen Ufer des Flusses, aus denen inmitten saftigen Grüns Granitbrocken von unnatürlich rotbrauner Farbe hervorkrochen. Ein Mittelding zwischen japanischen Steingärten und ägyptischen Pyramiden, wobei erstere aber zu klein und zweitere zu geometrisch sind.
Hitler hat diesen Ort für sein östliches Hauptquartier ausgewählt. Sicher kein Zufall. Gott sei Dank konnte aber selbst er ihn durch seine Anwesenheit nicht entweihen.
Unter der alten Linde sitzend erinnere ich mich, wie ich hier Botschaften von Sonja, die zehn Jahre älter war als ich, an ihren Geliebten übergeben hatte, selbst über beide Ohren in sie verliebt.
Die ersten Fischer kamen zum Fluß, in Gummistiefeln und Matrosenjacken.
Und ich ging langsam durch die Gärten zu unserem früheren Haus.
Zu jener Zeit war ich lockenköpfig, kontaktfreudig und rätselhaft, so daß mir der neue Hausherr unseres Hauses, ein Bergmann, ohne langes Gerede sofort erlaubte, auf den Dachboden zu kriechen, um Dokumente und Photos zu suchen, die dort noch lagen.
Wieder in Lwow entrollte ich vor meinem Vater das staubige Bündel mit unserem Familienarchiv: Photos und Briefe, Bilder, Zeichnungen, Aquarelle, die mir alle nichts sagten. Meines Vater Blick war eher in die Vergangenheit gerichtet als in die Gegenwart. Er sagte kein Wort, begrub das Gesicht in seinen Händen und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, daß er weinte. Dann verstand ich plötzlich, daß er sich in sein Paradies keine Fahrkarte kaufen konnte – ihm hätte dies niemand verkauft. Und das Paradies war für ihn nur noch der Duft der Zeit.
In dieser Nacht weinte auch ich. Heimlich, unter der Decke. Aber vor überschwenglichem Glück, daß ich meinen Vater verstehen konnte.