Der Hexenkreis bzw. Hexenring ist ein vergleichsweise seltenes
Phänomen, das kaum jemand kennt. Nach Ansicht der Biologen entsteht er
dadurch, dass das Myzel eines Pilzes in alle Richtungen gleich schnell
wächst und dabei einen Durchmesser von bis zu zehn Metern erreichen
kann. Das Phänomen tritt bei verschiedenen Pilzen auf – etwa bei
Fliegenpilzen und Steinpilzen.
Der Überlieferung nach bringt ein solcher Kreis seinem Finder großes
Glück. Man muss sich nur in sein Zentrum stellen und sich etwas
wünschen.
Der Begriff „Hexenring“ basiert auf dem mittelalterlichen Aberglauben,
dass dort, wo die Pilze im Kreis wachsen, die Hexen einen Reigen
getanzt haben.
Hexenkreis und Igel
Objekt und Assoziation sind zwei Begriffe, die Sie getrost austauschen
können. Das mögen Sie halten, wie immer Sie wollen. Sie gehören
unauflöslich zusammen und sind so fein ausbalanciert wie das reine
Licht eines sommerlichen Sonnenaufgangs.
Als Kind hat man Besseres zu tun, als den Sinn komplizierter
Erwachsenenwörter zu ergründen, die einen doch bloß von Spiel und
Schabernack abhalten. Was zählt, ist das unmittelbare naive Erleben
und eine Infantilität, die nahtlos ins Alter übergeht.
Der Morgen beginnt damit, barfüßig über den knarzenden Holzboden zu
tollen und einen irrsinnigen Slalom um die im ganzen Zimmer verteilten
Schüsseln und Töpfe herum zu veranstalten, die bei Regen das von der
Decke tropfende Wasser auffangen sollen. Jede Schüssel und jeder Topf
spielt im großen Orchester des auf das Dach trommelnden Regens und des
monotonen Rauschens der Blätter sein eigenes wohltemperiertes
Glockensolo. Im Korridor atme ich den Duft des Kerosinkochers ein und
werfe einen schnellen Blick auf die Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg
durch die von wildem Wein zugewachsenen und von innen mit dicken
Spinnweben verhangenen Küchenfenster bahnen.
Ich laufe auf den Platz vor dem Haus hinaus und einen kurzen Moment
lang blendet mich die helle Sonne. Der Regen hat über Nacht aufgehört.
Vom Boden steigt Dampf auf. Meine Beine tragen meinen schmächtigen
Körper wie von selbst in den Garten. Mit der einen Hand pflücke ich
eine Handvoll Beeren vom roten Johannisbeerstrauch und stopfe sie
gierig in meinen Mund. Die Früchte schmecken so sauer, dass ich mein
Gesicht zu einer Grimasse verziehe. Noch während ich kaue, hole ich
mit der anderen Hand mein kleines Werkzeug aus der Hose hervor und
drücke es mit den Fingern zu, bis sich der nötige Druck aufgebaut hat.
Dann löse ich nach und nach den Druck meiner Finger, drehe mich gegen
den Uhrzeigersinn und pullere einen Hexenkreis. Die sich auf den
Blättern des Rettichs, des Wegerichs und der Kletten bildenden Tropfen
glänzen heller als der in den frühen Sonnenstrahlen noch nicht ganz
verdampfte Morgentau.
Im Schnee macht sowas natürlich noch sehr viel mehr her, aber jetzt
haben wir Sommer. Ich hab noch gar nicht ganz fertig gepinkelt, da
jage ich schon weiter zum Stachelbeerstrauch, während ich noch die
angenehm warme Flüssigkeit an meinem Bein herablaufen spüre. Ich wähle
mir eine rostrote pralle und haarige Beere und genieße in
Bewegungslosigkeit erstarrt ihren honigsüßen Saft. Dann reibe ich mir
mit Spucke die von den jungen Brennnesseln juckenden Stellen am Bein
ab und renne an den Schüsseln und Töpfen vorbei ins große Zimmer, in
dessen Mitte ein Billardtisch steht. Ich greife mir eine Kugel und
befördere sie mit dem zweiten Versuch in das entfernt liegende Loch.
Währenddessen kommt meine Mutter von den Nachbarn zurück und schickt
mich Kerosin kaufen. Mit größter Mühe gelingt es ihr, mir ein Hemd
überzuziehen und eine Strohkappe aufzusetzen. Sie will noch die
Sandalen holen, aber es ist schon zu spät: Ich habe mir schon die
Blechkanne geschnappt, das Kleingeld hineingeschmissen und mich
scheppernd und klimpernd davongemacht. In meinem Schlepptau läuft
fröhlich bellend der Hofhund Moppel. Die Nachbarshunde erkennen ihn
und schon wenige Augenblicke später begrüßt die gesamte Hundeschaft
des Bezirks mit lautem Gekläffe den Anbruch des Tages. Einige Nachbarn
schimpfen, andere schauen uns neugierig nach.
Wir laufen über die Kreuzung, an der vier Straßen zusammenlaufen. In
der Mitte steht eine Wasserstelle und ein Strommast, von dem in alle
möglichen und unmöglichen Richtungen Leitungskabel abgehen und sich in
den am Himmelsblau vorbeiziehenden phantastischen Wolkenformationen
festkrallen. Ich hinterlasse in der dampfenden Erde, die so weich und
nachgiebig ist wie die Mutterbrust, meine Fußabdrücke für spätere
Generationen und schnappe mir vom Weg einen Stock, mit dem ich Kletten
und Brennnesseln köpfe. Dann schlage ich den Stock mit Schmackes gegen
die Blechkanne und werfe ihn den Hunden zu.
Bei der aus rußigen Brettern zusammengezimmerten Kerosinbude sitzen
die Leute auf einer Anhöhe und warten – deutlich mehr als gewöhnlich.
Sie gähnen, rauchen und dösen in der sommerlichen Morgensonne herum.
Der Kerosinverkäufer kommt raus, kratzt sich am Hinterkopf und zieht
seine speckige Kappe vor die Augen. Nachdem er seinen Blick über die
Versammelten schweifen lassen hat, hustet er in seinen Ärmel und lässt
alle von seiner durch langjährige Erfahrung gestützten Vermutung
wissen, dass die Kerosinlieferung für den Nachmittag zu erwarten sei.
Als erste reagieren meine Hunde auf diese Nachricht. Sie schleichen
sich davon, nicht ohne den Versammelten einen verächtlichen Blick
zuzuwerfen. Hier ist nichts los. Hier gibt es entschieden gar nichts
zu tun. Ich werfe meine Blechkanne über die Schulter und mache mich
auf den Heimweg. Meine Aufmerksamkeit gilt jetzt der Straße, deren
feucht dampfende Tonerde Generationen vor mir ausgelatscht haben. Ich
richte meinen Blick auf Boden und Füße. Als ich eine heruntergefallene
Pflaume entdecke, zerquetsche ich sie hingebungsvoll mit dem Fuß, bis
ich mit den Zehen den herausquellenden Stein herausgepult habe. Ich
putze meinen Fuß an den noch auf den Kleeblättern liegenden Tautropfen
ab und pflücke auf gleiche Art die ein oder andere Löwenzahnblüte.
Zwischen meinen Zehen sind sie schön anzusehen. Ich schlendere bis zur
Wasserstelle, pumpe ein paar Mal und halte meine Beine eins nach dem
anderen unter das kalte Wasser. Mir läuft eine Gänsehaut über den
Körper. Das Wasser ist nicht einfach nur kalt, sondern eisig. Nach
einer solchen Prozedur barfüßig auf den weichen warmen Boden zu treten
ist eine überirdische Wonne.
Ich suche mir eine ebene Stelle auf der Straße, setze meinen nassen
Fuß einen Schritt entfernt auf den Boden, stemme mein volles
Körpergewicht auf diesen und hinterlasse den ersten Abdruck. Dann
drehe ich mich im Kreis und mache Abdruck um Abdruck. Rechtes Bein,
linkes Bein, rechtes Bein, linkes Bein, links -rechts, links-rechts –
wie bei der Armee.
Ein Kreis von kindlichem Durchmesser. Meine wohlgeformten Kinderfüße
sind noch nicht von Plattfüßigkeit und Schwielen entstellt, die sich
gewöhnlich nach unzähligen unsinnig durchlatschten Kilometern im Leben
einstellen. Mein Werk erinnert mich an die Spuren eines rituellen
Tanzes, aber irgendwie ist mein Kreis ohne Zentrum. Das kann doch
nicht sein. Und da dämmert es mir, dass ich selber das Zentrum bin. Wo
ich bin, da ist das Zentrum des Kreises, egal, ob er nun groß oder
klein, dumm oder töricht ist. Der Kreis mag sein wie er will, das
Zentrum eines jeden Kreises bin ich. Das ist so einfach wie die
Tatsache, dass dich dein eigener Schatten niemals verlässt.
Der kreis hat sich geschlossen – der Hexenkreis. Ein altägyptischer
Kreis oder ein Kreis vom Stamm der Maya oder von russisch-orthodoxen
Muselmanen oder tibetanischen Karpaten-Huzulen – wer kann das schon
sagen?
Vom Fluss kommen die Angler von ihrem morgendlichen Fang. Ihre Köpfe
zieren die irrsinnigsten Kopfbedeckungen: einer trägt ein
Damenhütchen, der andere einen napoleonischen Kriegshut, mit flinker
Hand aus dem Lokalblatt gefaltet. Alle haben sie ihre langen
Angelruten geschultert, deren Spitzen den Himmel zerkratzen. Abends,
wenn sie ausgeruht haben, kommen sie alle zum Billardspielen zu uns.
Sie bleiben stehen und beobachten meinen Tanz, bevor sich ein jeder in
seine Richtung nach Hause trollt. Sie alle sind Mitglieder der
informellen Organisation „Die Zerrissenen Kiemen“, der mein Vater in
jenem Jahr vorstand.
Sie gaben mir immer wieder etwas zu tun – Regenwürmer sammeln zum
Beispiel oder Köderfische fangen - kleine Fischchen, von denen es auf
unserer Seite des Flusses sehr viele gab.
Ich fing sie von unserem Holzsteg aus mit einem „Spinnennetz“ – das
ist ein langer Stock mit zwei kleinen Querstöcken dran, an denen ein
Mulltuch hängt, in das man als Köder Brotkrumen wirft. Wenn der Mull
mit Wasser vollgesaugt ist, ist das für meine kleinen Ärmchen schon
ziemlich schwer. Man muss das Spinnennetz langsam und vorsichtig
heben, um die flinken kleinen Gründlinge und Bitterlinge nicht
aufzuschrecken. Letztere gerieten übrigens höchst selten ins Netz, da
sie über ihre geschmacklichen Qualitäten durchaus im Bilde zu sein
schienen und entsprechend vorsichtig waren.
Und jetzt, wie ich so den von der Straße abzweigenden Weg zu unserem
Haus hochlaufe, treffe ich drei mir höchst liebe Großmütterchen –
Marja Kusminitsch, Elena Kusminitsch und Nina Kusminitsch. Die drei
Schwestern bewohnen einen Flügel im Haus gegenüber. In der anderen
Hälfte des Hauses lebt ein Nachbar mit Spitznamen Naff-Naff samt Frau
und Tochter in meinem Alter. Er ist ein Verwandter des berühmten
Künstlers Natan Altman.
Wir grüßen uns wie alte Verwandte. Die drei Schwestern wissen, dass
ich ein ausgemachter Rabauke sein kann, aber ihnen gegenüber ganz brav
bin.
Als ich einmal bei ihnen zu Besuch war, hat eine jede der Schwestern
von ihrem alles andere als leichten Schicksal erzählt. Die beiden
älteren Schwestern hatten ihre Männer verloren, attraktive Offiziere,
und auch ihre Kinder waren gestorben.
Die dritte Schwester hatte erst gar nicht geheiratet. Vielleicht
machte sie deshalb einen so strengen Eindruck auf mich.
Sie weihten mich kleinen Bengel in ihr Leben ein und vertrauten mir
das Kostbarste an, was sie hatten – die Erinnerung an ein gelebtes
Leben. Sie gaben mir, was sie ihren geliebten Männern und Kindern
nicht mehr hatten geben können – ihre reine Liebe und ihre Seele.
Ich war da, ein Zappelphilipp mit Segelohren – ein lieber kleiner
Rabauke, ihr Adoptivenkel, der letzte Halt ihrer Hoffnung. Ich stand
im Zentrum eines Kreises der Liebe, umgeben von drei Schwestern, die
mich mit Licht und Wärme für ein ganzes Leben beschenkten.
Ich flitze in die Küche, sage meiner Mutter, dass heute ganz sicher
kein Kerosin mehr geliefert wird, aber zum Ausgleich könne ich gern
die Kirschen pflücken. Ich tausche die große Kerosinkanne gegen die
kleine für Kirschen und bin schon raus in den Garten. Noch im Laufen
gucke ich mir einen Baum aus, auf den ich klettern kann. Wo drei
Schwestern sind, da ist auch ein Kirschgarten in der Nähe. Und hier
liegt er vor mir: ein bisschen verwildert, außer den Kirschen gibt es
auch viele Pflaumenbäume. Aber mich interessieren im Moment nur die
Kirschen. Die dicken hellroten Früchte sind ein bisschen säuerlich im
Geschmack und eher für Kirschtaschen geeignet. Diese Sorte lasse ich
links liegen, die interessiert mich jetzt nicht, aber auf den Baum da
vorne mit den intensiv süßen Früchten klettre ich rauf.
Die erste Kirsche berührt meine Nase, ich befördere sie mit den Lippen
in meinen Mund, zerbeiße sie und erstarre vor Wonne, bevor ich den
Stein geübt ausspucke.
Ich kann schon nicht mehr an mich halten und schlage mir, den Stamm
mit beiden Händen umschlungen, erst Mal den Bauch voll. Dann muss ich
auch noch ein bisschen für's Schälchen pflücken, also hangele ich mich
am Stamm zur Baumkrone hoch, denn dort sind mehr Früchte. Wie gut,
dass die dünnen Zweigen mein Vogelgewicht nicht bemerken. Bei den
Süßkirschen sind die Zweige weniger morsch als bei den Sauerkirschen,
die zu allem Überfluss meist auch noch wurmstichig sind. Von unten
höre ich meine Mutter rufen. Was sie mir jetzt zu sagen hat, kenne ich
in und auswendig. Also mache ich schnell mein Schälchen voll und lasse
mich langsam am Stamm herunter. Dabei mache ich ab und an Stopp, um
ein Stück Kirschharz von der Rinde zu kratzen. Das schmeckt besser als
die besten amerikanischen Kaugummis, die ich zwar noch nie im Leben
gesehen und erst recht nicht probiert habe, aber so sagt mein Vater.
Ich komme in die Küche. Schüsseln und Töpfe stehen schon nicht mehr
auf dem Boden. Mit der Erhabenheit eines Ernährers der Familie stelle
ich das Schälchen auf den Tisch. Meine Mutter schaut mich an und
schüttelt missbilligend den Kopf. Ich gehe zum Spiegel und schaue mich
an. Mein Kopf ist von einem Spinnweben bedeckt, mein Mund von Kirschen
verschmiert. Ein Klecks hat es sogar auf meine Stirn geschafft.
Über mein Hemd, das aussieht wie von einem abstrakten Künstler
entworfen, kriecht eine dicke Raupe. Ich gehe in den Hof, wo ein
Waschbecken mit Regenwasser hängt.
Während ich mich noch wasche, sehe ich aus dem Augenwinkel zwei
Gestalten im Gemüsegarten sitzen. Das sind Ira und Vera, die
Nachbarsmädchen, die eine frisch aus dem Gemüsebeet gerissene junge
Möhre mit Erdbeilage verspeisen. Vera hat grünen Schnött an der Nase.
„Lauft schnell hinter mir her, dann zeige ich euch ein Geheimnis“,
rufe ich ihnen zu. Wir rennen hinter den Himbeerbusch, wo uns niemand
sehen kann.
Sie setzen sich ins Gras.
„Augen zu und nicht spinksen“.
Sie folgen brav meinem Befehl.
Und ich hole schnell mein kleines Werkzeug aus der Hose, drücke es
kurz mit den Fingern zusammen, bis sich der nötige Druck aufgebaut
hat, und widme den ersten Strahl Ira – voll ins Gesicht zielend – und
den zweiten dann Vera.
Sie öffnen die Augen und schauen mich fassungslos an, bevor sie sich
mit dem Saum ihrer Kleidchen die schnöttrigen Schnäuzchen abwischen.
Als wäre nichts gewesen, krame ich zwei appetitliche Stückchen
Kirschharz hervor und gebe sie ihnen. Sie nehmen sie und laufen weg.
Wieso hab' ich das damals gemacht, frag' ich mich heute? Nun ja,
schließlich ist man irgendwann zu alt für solche Experimente. Dafür
ist die Kindheit ja da.
Jetzt werden die beiden mich bei ihren Eltern verpetzen, und die
werden sich bei meinen Eltern beschweren. Kurz gesagt, Angenehmes ist
kaum zu erwarten. Aber es ist nun mal über mich gekommen, ohne tiefere
Absicht und Vorsatz. Was mussten sie auch so schnöttrige Schnäuzchen
haben? Vielleicht sollte ich mich bis zum Abend besser verkriechen?
Andererseits: Was hatte ich als Kind schon zu befürchten? Schließlich
hatte ich schon alle erdenklichen Strafen durchprobiert, die mein
Vater auf Lager hatte, ob das nun Hiebe mit dem Gürtel waren oder mit
nackten Knien auf Buchweizenschrot hocken. Einmal hatte ich sogar zwei
volle Tage lang in der Ecke gestanden, ohne um Vergebung zu bitten.
Und da hatte es immerhin einen handfesten Grund für eine Strafe
gegeben, denn ich hatte mit ein paar Spielkameraden die Hälfte aller
Negative unseres Familienarchivs vernichtet, um daraus Rauchbomben und
Raketen zu basteln.
Als ich nach Hause komme, ist keiner da. Also gehe ich zum Spiegel und
schneide mir mit der Schere direkt über dem Nasenbein ein dickes
Quadrat in den Pony. Die Frisur entspricht eindeutig nicht der Mode
der Zeit und ist ihr um viele Jahrzehnte voraus.
Das geschieht euch allen nur recht, ich kann mich selber bestrafen und
mich ohne fremde Hilfe in der Ecke einfinden.
Ich gehe zu den Kusminitsch-Schwestern und frage, ob ich sie nicht was
aus dem Laden brauchen. Als sie meinen Quadratpony erblicken, schauen
sie einander an, tun aber so, als würden sie nichts bemerken. Sie
schreiben mir einen Einkaufszettel mit zwei Positionen: einmal Brot
für 7 Kopeken, einmal Sonnenblumenöl für 25 Kopeken. Sie geben mir ein
sauberes Einkaufsnetz und eine leere Flasche mit Korken für das
Sonnenblumenöl. Ich nehme Zettel und Geld, plus 7 Kopeken für Eis.
Die Verkäuferin im Laden versucht gar nicht erst, mich übers Ohr zu
hauen, denn ich kenne das Codewort: „Das ist für die
Kusminitsch-Schwestern“.
Als ich meiner Mutter über den Weg laufe, packt sie mich am Arm und
schleift mich nach Hause. Sie sitzt auf dem Hocker und fängt an zu
weinen - erst leise und damenhaft, dann laut schluchzend und unter
hysterischem Klagegeschrei. Alle anderen sind mit normalen Kindern
gesegnet, aber bei mir vergeht nicht ein einziger Tag, ohne dass ich
was anstelle. Ohne meinen Arm loszulassen, zieht sie mich an wie für
einen Ausflug auf die Prachtstraße unseres Bezirkszentrums. Als ich
einen Moment lang nicht aufpasse, schnappt sie sich mein abstehendes
Ohr und dreht es schmerzhaft um.
Alles weitere ließ ich teilnahmslos über mich ergehen. Ich musste mich
nur bedingungslos meiner Mutter ergeben. Sie war meine Anklägerin und
ich ein minderjähriger Angeklagter, der freiwillig seine Verteidigung
ausschlug.
Der Weg zum Richtplatz war wunderbar. Stundenlang hätte ich spazieren
gehen können. Zunächst führte ein kleiner Trampelpfad vom Haus weg,
über den im Lauf der Jahrhunderte ganze Heerscharen gezogen waren:
fette Kröten und gemächliche Schildkröten, graziöse Katzen und
nächtliche Igel, die auf ihren Stacheln Äpfeln, Birnen und alles
andere balancierten, was nicht niet- und nagelfest war. Die
schwieligen Füße der Fischer von den „Zerrissenen Kiemen“, ihre
wohlgenährte Bagage und ihre Ehefrauen, die schon niemand mehr auf
Händen zu tragen vermochte. Großmütter und Großväter, Enkel und Söhne,
Witwen und ihre unbefleckten Fräulein Töchter – sie alle waren hier
lang gezogen und verliehen dem Pfad eine magische Kraft.
Rechterhand wuchs ein Apfelbaum – Jakobiapfel – dessen
matriarchalische Krone die Adamsäpfel im Kreis herumwarf, um
unachtsame Passanten in Versuchung zu führen. Wer diesen Ort passiert,
sollte nicht eilen, denn der Baum entscheidet in einem einzigen kurzen
Moment, ob er dir einen fauligen Apfel direkt auf den Kopf oder einen
heilen direkt vor die Füße zuzuwerfen gedenkt. Dieser Apfel hier, der
mir direkt vor die Füße fällt, ist für mich bestimmt. Der Baum hat mir
also schon mal verziehen. Ich stoppe mit beiden Beinen und meinem
Hosenboden für einen kurzen Moment die Gefangenenüberführung und
schnappe mir mit der rechten Hand die Gabe Gottes. Mit dem Daumen
drücke ich leicht auf die Frucht, führe sie an mein Segelohr und
lausche dem Knirschen des saftigen süßen Apfels. Einen solchen Ton
bekommt man sonst nirgends zu hören.
Ich taste den Apfel mit meinen Lippen ab, um das Wurmloch zu finden –
den Unterschlupf meines Nebenbuhlers.
Ich öffne den Mund, blecke die Zähne im nötigen Winkel und lasse den
Apfel gegen die Zähne schlagen. Eine Fontäne süßen aromatischen
Nektars befeuchtet wie mit einem Feuerwehrschlauch gespritzt meine
Kehle. Ich verschlucke mich kurz, spüre wie es feucht meinen Bauch
herunterläuft und den Schoß erreicht. Mich erfüllt eine
unvergleichliche überirdische kindliche Wonne Das Erwachsenenwort
Orgasmus war mir zu jener Zeit, da ich noch nicht mal Oktoberkind war,
natürlich noch nicht geläufig, dafür musste ich mindestens noch zu
einem progressiven Mitglied der Pionierbrigade Pavlik Morosow
heranwachsen.
Ich beiße kraftvoll in den Apfel und suche in den beiden von
Wurmlabyrinthen zerfressenen Hälften die vollgefressene grüne Raupe.
Ich sauge sie mit den Lippen heraus, und genieße ihre muskulösen
Körperbewegungen unter meiner Zunge. Ich spüre, wie sie schnell einen
Schutzkokon um sich spinnt. Und schon eine Minute später flattert aus
meinem Mund ein wunderbarer Schmetterling hinaus in die Welt. Der
Kreis hat sich geschlossen. Denn wir kommen aus ein und dem selben
Kreis – der julireife Jakobiapfel und ich.
Der Pfad führt in die benachbarte Gartenkolonie, der jünger ist als
unsere und zum Territorium der „Zerrissenen Kiemen“ gehört. Im Garten
des einarmigen Anwalts Pawel Borissowitsch steht ein Pingpongtisch,
zwischen zwei Pflaumenbäumen ist eine Hängematte gespannt. Eine
Holzhütte in der Ecke des Gartens beherbergt den einzigen Bootsmotor
des Bezirks. Und schließlich steht neben dem Haus eine Regentonne, in
der meine Lieblingsschildkröte mit Spitznamen Tarakuzka lebt.
Der Anwalt wusste nur zu gut, dass ich kein Engel war, aber ich wusste
auch, dass er nicht Gott war. Auf dieser Grundlage basierte unsere
Beziehung ungeachtet des beträchtlichen Altersunterschieds auf dem
unerschütterlichen Fundament einer Männerfreundschaft. Einmal in der
Woche zum Beispiel bot er mir an, eine Spritztour mit seinem Motorboot
zu machen. Welcher Junge hätte ein solches Angebot ausschlagen können?
Und ich hat nicht einmal einen Konkurrenten.
Pawel Borissowitsch bückte sich unter den Motor und schulterte ihn so
behände mit seinem einen Arm, dass ich kaum nachkam, ihm einen weichen
Lappen zwischen Schulter und Motor zu legen. Anschließend schleppte er
ihn bis runter zum Fluss, während ich ein paar Angelruten trug, mit
denen ich die Nachbarshunde ärgerte. Es wunderte mich immer wieder
aufs neue, wie virtuos er mit seiner einen Hand die Haken aufzog,
Würmer darauf setzte oder Billard spielte. Dabei nahm er seine Zähne,
Lippen, Zehen und seinen verbliebenen Armstumpf zu Hilfe, mit dem er
die Angel führen konnte, dass ein zweiarmiger Angler nur neidvoll
erblassen konnte. Ich war zwar nur ein segelohriger kleiner Rabauke,
aber nichtsdestotrotz ein gelehriger Schüler.
Von dem Anwalt lernte ich außerdem, ohne dass der selbst davon etwas
ahnte, noch eine ganze Menge über die Geheimnisse der Juristerei. So
imponierte mir eine Geschichte, die mein Vater von ihm erzählte.
Nachdem er sein Studium in Moskau abgeschlossen hatte, wurde ihm sein
erster Fall als Anwalt übertragen, ein Mordfall, bei dem eine Kappe
das einzige Beweisstück darstellte. Als sein Mandant diese auf Geheiß
des Staatsanwalts anprobieren sollte, forderte er diesen im Übermut
von Jugend und Rechtschaffenheit auf, die unselige Kappe doch erst
einmal selbst aufzusetzen.
Natürlich wurde ihm nach diesem „galanten“ Auftritt jegliche private
Anwaltstätigkeit untersagt, so dass er nur noch Unternehmen oder
Fabriken vertreten durfte.
Für mich war er ein erwachsener Rabauke. Und er hielt mich seinerseits
wahrscheinlich für talentierten Nachwuchs Seinesgleichen.
Ich lenke das Boot über den Fluss. Wir legen an und er geht kurz weg.
Als er nach 15 Minuten zurückkommt, bringt er mir ein großes Eis mit,
denn er weiß nur zu gut, dass es ihn teuer zu stehen kommen würde, zu
knausern. In seinem Gefolge kommt eine dralle Dame den Weg zum Ufer
hinab, die immer wieder nervös um sich schaut und im Gehen das
Dekolletee zurechtzupft. Alles weitere war mir bestens bekannt – jetzt
ging's ins Schilf auf die Insel. Während sich meine Klienten auf der
Insel vergnügten, schnitt ich Schilf und angelte einen Fisch für meine
Lieblingsschildkröte Tarakuza. Es dauerte einige Zeit, bis mir
dämmerte, welch zentrale Rolle mir in diesem Spiel zugedacht war.
Einen besseren Alibizeugen als mich, der ich selig ein Riesenbündel
Schilf vor mir her trug, hätte er seiner Frau nicht präsentieren
können. Nachdem wir seine Gespielin abgesetzt haben, fragt er mich, ob
ich vielleicht noch ein Eis haben möchte. Ich muss den Mund gar nicht
aufmachen, denn die Antwort steht in meinen unverschämt gierigen Augen
geschrieben. Und das ist längst noch nicht alles, denn der Anwalt
hatte auch eine sehr schöne Tochter, die freilich rund zehn Jahre
älter war als ich selbst. Ab und an bat sie mich um einen Gefallen -
zum Beispiel ihrem Liebsten einen Brief zu überbringen.
Ich kann nicht sagen, dass mir diese Aufträge besonderes Vergnügen
bereiteten, aber als Gegenleistung für meine Dienste erlaubte sie mir,
ihr sonnengebräuntes Bein oberhalb des Knies zu berühren, was ich
meinerseits schamlos ausnutzte, um meine Finger immer höher kriechen
zu lassen. Wie sollte sie sich denn auch meiner Frechheit erwehren?
Und womöglich war ihr die Neugier eines wissbegierigen Dreikäsehochs
ja sogar angenehm. Nach und nach brachte ich so Anwalt und Tochter in
meine Abhängigkeit.
Schade nur, dass die Zeit niemals reichte, mir das ganze Quartal zu
unterwerfen, den Bezirk und die Stadt. Dafür waren drei Monate
Sommerferien einfach entschieden zu wenig.
Ein wenig rechts vom Pfad steht noch das Haus des Luftwaffenoffiziers
außer Dienst Postalowskij. Er gehört nicht zu den „Zerrissenen
Kiemen“, ist aber immerhin eine Art Alliierter. Ein durch und durch
durchgeknallter Angler, der schon um vier Uhr morgens auf den Fluss
fährt. Um Eins schaut seine quadratische Ehefrau mit zwei prall
gefüllten Einkaufsnetzen vorbei: ein volles Dreigängemenü plus Dessert
und dem unverzichtbaren Viertelliterfläschchen Wodka.
Vom Ufer ruft sie ein paar mal „Wanja“, winkt energisch und er winkt
schweigend zurück. Bald legt sein Kahn an. Er macht es sich auf dem
von den Gänsen gezupften Gras vor der mit Leckereien gespickten
Tischdecke gemütlich, speist und trinkt seinen Wodka und döst vor sich
hin. Er überreicht seiner Frau den morgendlichen Fang und nimmt im
Gegenzug frisch ausgebuddelte Würmer entgegen. Dann legt er wieder ab,
um seine Militärseele im Ruhestand einzufangen.
Einmal waren wir bei den Postalowskijs zu Mittag geladen, als Mama nicht da war.
Auf dem Tisch standen drei Schnapsgläser, eine Flasche
Selbstgebrannter und eine Emailleschüssel mit Salat – Tomaten, Gurken
und Zwiebeln - mit aromatischem Winnizer Sonnenblumenöl angemacht. Für
mich stand abseits eine Flasche mit süßer Selterslimo der Marke
Buratino.
Nach der ersten Runde Schnaps stand ein Fünflitertopf Borsch auf dem
Tisch, dazu Semmel mit Knoblauchsoße. Die Borschteller waren kaum
kleiner als die Salatschüssel.
Nach der zweiten Runde Schnaps wurden die Teller nicht abgeräumt.
Vielmehr kam eine weitere Emailleschüssel mit Kartoffeltaschen mit
Speckgrieben auf den Tisch und dazu ein kleiner Tonkrug mit
hausgemachtem Schmand. Nach der dritten Runde Schnaps wurde eine
dritte Schüssel mit Kohltaschen gebracht. Mir wurde schon bei dem
Gedanken schlecht, das alles nicht aufzuessen, sondern bloß zu
probieren.
Mein Vater und ich warfen uns Blicke zu. Hier muss ich anmerken, dass
mein Vater genauso ein Hungerhaken war wie ich, nur eben erwachsen. Es
gab keinen Ausweg.
Und schon wurde die vierte Schüssel aufgefahren, diesmal mit
Kirschtaschen. Ich schaute mich in dem Zimmer um, in dem wir aßen: in
der Mitte ein riesiger Tisch, saubere, nach militärischer Vorschrift
gebohnerte Holzdielen, über die ein geschmackloser Läufer gelegt war,
an den Wänden zwei Teppiche – einer mit röhrenden Hirschen, auf dem
anderen die drei Bären des Künstlers Schischkin.
Die Fenster waren mit Tüllgardinen verhängt, die die Vögel fernhalten
sollten, an der Decke hing ein Kronleuchter aus tschechischem
Pseudokristall, der mit Fliegenfängern behängt war, an denen dicht an
dicht die Fliegen klebten.
In diesem Moment will ich nur noch nach Hause, wo Schüsseln und Töpfe
eine Teigtaschen und Salaten diametral entgegengesetzte Funktion
erfüllen. Sie sammeln tropfenweise das Regenwasser, das sie wie von
den Himmeln kullernde Tränen bewahren.
Ich sehne mich nach unserer Veranda mit Mosaikboden und Ameisenpfaden,
wo unzählige Vogelnester und eine dichte Wand uralter Spinnweben im
wild wuchernden Wein unser Haus viel besser gegen Fliegen schützen als
jeder Fliegenfänger das kann.
Als wir bei den Postalowskijs das Weite suchen, frage ich mich, warum
ihre ganze Sippschaft, obwohl ihre Glupschaugen groß wie Pingpongbälle
sind, so leere und meinen kindlichen Vorstellungen vom bevorstehenden
Leben so fremde Augen hat.
Auf der Wiese hinter dem Haus der Postalowskijs spielen die Dorfbengel
Schlagball, lassen aber beim Anblick ihres abgeführten Altersgenossen
das Spiel und werfen uns Blicke voll Neugier und Furcht hinterher.
Gegenüber dem Stadion steht noch ein Haus, das mich aber nicht
interessiert, außer vielleicht dass dort eine Altersgenossin wohnt, an
die mich ihr bescheuerter älterer Bruder nicht ranlässt.
An dieser Stelle teilt sich der Pfad und geht in einen Weg über, in
den die seltenen Autos tiefe Rillen gezogen haben. Zwischen den beiden
Spuren, die mich aus unerfindlichen Gründen an Frauenbeine denken
lassen, wächst dichtes Gras. Der Weg führte in einen dunklen und
grauslichen Garten, durch dessen alte Birnbäume kein Sonnenstrahl
dringt. Zwei Pfützen, die sich schon vor einer Woche beim Regen
gebildet haben, trocknen einfach nicht aus, so dass man zwischen den
beiden Fahrrillen durch das dichte Gras wie über einen zugewucherten
Schamhügel schreitet und seine bloßen Beine von den Pollen des
blühenden Sommergrases bestäuben lässt.
Kaum hatten Mutter und ich diese gefährliche Zone betreten, stürzte
ein schrecklicher deutscher Schäferhund auf uns zu – wahrlich ein Hund
von Baskerville.
Sein Bellen durchschnitt jäh die Stille. Wie auf Kommando rissen sich
die auf den Baumkronen sitzenden Vögel von ihren Plätzen los und
stoben empor. Die Birnenzweige begannen zu schwanken und ließen die
reifen Früchte auf uns niederprasseln, die wie Granaten am Boden
zerschellten. Alle erschraken – Mama, der Hund und ich. Da ich den
Köter nur zu gut kannte, packte ich ihn an seiner Zottelmähne,
fletschte hockend die Zähne und schrie ihn laut an. Der Köter kniff
seinen Schwanz ein, heulte laut auf und suchte, ein Büschel seines
schwarzen Fells in meiner Hand zurücklassend, blitzschnell das Weite.
Ich richtete mich auf und blickte zu meiner Mutter. Sie stand nur da
und schaute mich an wie einen Irren. Als sie sich von ihrem Schock
erholt hatte, zog sie mich weiter in Richtung eines Ziels, das nur sie
kannte.
Das letzte, was ich auf dem Weg noch registrierte, waren Leute, die
Ton und Stroh mit ihren bloßen Füßen walkten und in Holztröge
stopften, die sie in gleichmäßigen Reihen zum Trocknen in die Sonne
stellten. Alles war noch ganz so wie am Tage der Schöpfung und nie
werden die Töpfer ohne Beschäftigung sein - diese ersten Helfer des
Schöpfers.
Wir sind am Hauptplatz unseres Bezirkszentrums angelangt. Eine Kirche,
eine kleiner Bushalt, ein Gemischtwarenladen, der Streichhölzer und
Zigaretten, Seife, Salz und Zucker, Wodka, und Heringe, eingelegte
Grundeln in Tomatensoße, Nägel, Sonnenblumenöl zum Mitnehmen im
eigenen Glas, Makkaroni und Mausefallen, Milch zum Abfüllen und
Holzwäscheklammern führt. Daneben war ein Brotladen, der einmal am Tag
beliefert wurde.
Die Laster wurden in verschiedenen Varianten für alle Fälle des Lebens
gebaut und dann für Milch, Brot oder Kwas rot oder weiß beschriftet.
Mehr als alles andere gefiel mir, beim Ausladen des Brots zuzugucken.
Der Brotfahrer und sein Ladehelfer gehen ohne jede Eile zum Lager des
Ladens. Die Schlange wird langsam hibbelig, jemand ruft die Drängler
zur Ordnung. Einige schmachtende Minuten des Wartens später kommen
Fahrer und Packer gemächlich zurück. Der Fahrer schreitet mit
gewichtiger Miene um seinen Laster herum, tritt mit dem Stiefel gegen
die Räder, was einen an ein altes urzeitliches Ritual denken lässt.
Der Packer zieht unterdessen an den Seiten der Ladefläche quietschend
zwei lange Metallstangen heraus, und aus dem geöffneten Wagen schlägt
der Menge das Aroma frisch gebackenen Brotes entgegen. Dann setzt sich
der Fahrer eine Wintermütze auf, nimmt einen langen Haken und fischt
vier Paletten Brot aus dem Wagen.
Als die Paletten zu mehr als der Hälfte ausgeladen sind, greift er
sich mehrere, stützt sie mit seinem Kopf ab und balanciert sie wie ein
Zirkusartist schnell in den Laden. Die Menge hat unterdessen gezählt:
drei Paletten Schwarzbrot, fünf Paletten Graubrot und vier Paletten
Weißbrot – alles in allem recht mau. Das gibt bestenfalls zwei Kanten
pro Nase, raunt es aus der Menge. Nachdem er das Brot abgeladen hat,
trägt der Packer die schon reichlich mitgenommenen leeren Holzpaletten
zurück in den Laster. Der flinkere Teil der Schlange versucht ihm
Münzen für einen Kanten Brot zuzustecken – ohne Rückgeld natürlich.
Nachdem er so ein paar Laibe unter der Hand verkauft hat, schwirrt er
ab, und das Volk wartet ungeduldig auf das Signal zur Stürmung des
Ladens. Zwischen Gemischtwarenladen und Brotgeschäft ist noch ein
Friseursalon, den meine Mutter jetzt zielstrebig ansteuert. Die
Exekution braucht nicht lange: mein Haar fällt in dichten Büscheln auf
meine Schultern und schon wenige Minuten später rase ich mit
Rasierwasser desinfiziert in Richtung Zuhause. Auf meinem kahlen
Schädel flimmert siw Sonne. Nicht dass ich an meinen Haaren gehangen
hätte wie die Mädchen an ihren Zöpfen, aber ein Gefühl der
Erniedrigung empfand ich durchaus. Die zwei Frauen walkten in der
Hitze immer noch Ton und Stroh, die Beine bis auf die rosafarbenen
Unterhosen entblößt, die so gleich waren wie Uniformen. Die Wiese, auf
der die Dorfbengel Schlagball gespielt hatten, war jetzt leer, dafür
hatte sich vor dem Haus, in dem meine Altersgenossin wohnte, eine
ziemlich große Menge versammelt. Schnell wurde mir klar warum. Grunzen
und Quieken erfüllte die Luft, ein halbes Dutzend Männer zerrten ein
Schwein aus dem Stall, dessen massigen Körper sie wie ein Schwarm
Fliegen umschwirrten – von vorne, von hinten und von der Seite.
Je näher das Schwein dem Haus kam, desto heftiger wurde sein
Widerstand, als spüre es das kommende Unheil. Aber die Kräfte waren zu
ungleich verteilt und als das Schwein nur noch wenige Meter von der
Schwelle entfernt war, warfen die Männer es um, hielten es mit dem
vollen Gewicht ihrer Körper am Boden und warfen es auf den Rücken.
Schon kam der Metzger in schwarzer Schürze und Gummistiefeln, ein
extrem schmales und langes Messer, wie ich es noch nie gesehen hatte,
in der einen Hand und einen Schleifstein in der anderen, mit dem er
immer wieder sein Werkzeug schärfte.
Dann ging er auf die Knie, ertastete mit seinen Fingern den tödlichen
Punkt auf der Brust des Schweins und stieß sein langes Messer bis zum
Griff in den Schweinekörper.
Die Menge schrie Ah und Oh, das Schwein kreischte auf und begann so
laut und durchdringend zu quieken, dass ich es nicht mehr aushalten
konnte und angstvoll davonlief.
Ich rannte zum Garten des Rechtsanwalts, der kaum einen Katzensprung
weg war, als mich plötzlich eine tiefe Müdigkeit übermannte, als hätte
man nicht das Schwein sondern mich abgestochen. Ich ließ mich in die
Hängematte fallen und schlief wie ein Toter.
Ping-pong-ping-pong-pong-ping-pingping-pong – ich öffne die Augen und
sehe den Himmel, fokussiere den Blick auf den Vordergrund und sehe die
Krone des Pflaumenbaums und seine tiefblauen Früchte. Eine löst sich
vom Zweig und fällt direkt auf mich zu, aber ich habe weder Willen
noch Kraft auszuweichen.
Ich lasse mich aus der Hängematte fallen und gucke, wer spielt. Pawel
Borissowitsch und Andrej Mersljakow Spitzname Rotnas, weil er gern
roten Portwein trinkt. Die „Zerrissenen Kiemen“ trainieren,
kommentieren meinen kahlen Kopf , aber ich reagiere nicht – ich bin
noch nicht wirklich wach. Ich gehe am Jakobiapfel und den Gärten
vorbei und komme nach Hause, wo mich schon die nächste Überraschung
erwartet. Zwischen unserem Haus und dem Nachbarhaus stand ein großer
Holzklotz, auf dem man je nach Bedarf Holz hacken, Fleisch zerlegen
oder Schuhe reparieren konnte. Nun aber standen Naff-Naff und Mama um
diesen Klotz herum, er ein Beil und Mama mein liebstes Küken in
Händen. Ich hab' kein Ohr für ihre Argumente und stehe nur da wie
festgenagelt.
Naff-Naff presst den Kükenkopf aufs Schafott und schlägt zu - vorbei.
Er stellt sich bequemer hin und schlägt noch einmal – wieder vorbei.
Und auch der dritte Schlag verfehlt allen Mühen zum Trotz das Ziel.
Hier sollte nach den Gesetzen aller Länder und Völker die Begnadigung
folgen – aber nicht hier und jetzt. Naff-Naff holt zum vierten Schlag
aus – und dieses Mal fällt der Kopf meines Kükens.
Im Todeskrampf wand sich der Vogel in der Hand seines Henkers, die
goldenen Federn stoben wie aus einem aufgeschlitzten Kopfkissen auf
den Hof. Und plötzlich entwandt sich das Küken den Händen und lief
kopflos davon.
Der Nachbar und Mama machten sich daran, ihr Opfer zu suchen, aber ich
war es, der es fand, unter einem Fliederbusch stehend, ohne Kopf – aus
dem Hals schoss das Blut wie aus einem Geysir.
An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern, vielleicht bin ich in
Ohnmacht gefallen oder ich hab sonst irgendwie das Bewusstsein
verloren – keine Ahnung.
Als ich wieder zu mir komme, beugt mein einarmiger Freund, der
Rechtsanwalt, seinen Kopf über mich. Mit seiner einen Hand hält er mir
einen Igel hin, den er freilässt, sobald ich wieder einschlafe, um ihn
in nächsten der Nacht wieder zu bringen - zur Vertiefung einer
Lektion, deren Sinn mir noch lange verborgen bleiben sollte. Der Igel
hechelt als wolle er mir etwas Wichtiges sagen – für das ganze Leben.
Und stubst sein kleines feuchtes Näschen auf meins. Von dem Glück, das
mich ergreift, läuft mir die Spucke.
Ich streichle seine spitzen Stacheln und wache endgültig auf, stoße
nach dem Schlaf auf das reale Leben, bloß um erneut in die rosigen
Träume der Kindheit einzutauchen, die mich vor der auf mich wartenden
Routine des bevorstehenden Alltags bewahren.
Um den Hexenkreis sprießen die Stacheln des Igels und schützen mich
bis zum heutigen Tag vor der hektischen Welt.
Zentrum und Kreis sind immer eins und sind mit niemand anders zu
teilen. Sucht selbst euer Zentrum und dreht euch in alle vier
Richtungen, euer ganzes Leben lang. Und wenn ihr euch dessen würdig
erweist, wird der Kreis auch euch behüten und schützen.