Mein Paradies erreichte der Zug am frьhen Morgen.
Fьnf Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Meinem Vater hatte ich kein Wort gesagt, hatte mir von meinem Stipendium eine Fahrkarte gekauft und war einfach losgefahren. Im billigen GroЯraumwaggon ьberkamen mich seltsame Gefьhle und es frцstelte mich. Meine Gedanken wurden schneller als der Zug ohne Halt in die Vergangenheit getragen. Es hatte den Anschein, daЯ ich wie eine von einer dьnnen und brьchigen Eisschicht ьberzogene Pfьtze war, und jeder zufдllige Passant, der mich berьhrte, diese dьnne Schutzschicht zertrampelte. Dann erinnerte ich mich unwillkьrlich der Dьfte der Kindheit – blьhende Linden, das Sonnenblumenцl, mit dem meine Mutter gekocht hatte, unser Kerosinkocher, schwarze Johannisbeeren, und alles zusammen nach einem warmen Sommerregen – der Duft von Flieder und Dill, Petersilie, Zwiebeln, Hьhnerdreck, Kirschen und Chrysanthemen. Dann fьhlte ich mich gebraucht und geschьtzt, und das dьnne Eis meiner Angst schmolz dahin.
Der Zug erreichte die Stadt am frьhen Morgen. Als ich zum FluЯ ging, tauchte ich in dichten Nebel und tastete mich intuitiv zum Ufer vor. An der Biegung des Flusses setzte ich mich unter meine zweihundertjдhrige Lieblingslinde. Der Bug war wie erstorben. Wolken zogen vorbei. Die Luft vibrierte unter dem Singen erwachender Vцgel. Auf der Anhцhe in meinem Rьcken erhob sich ein Buchenwald, ein sicherer Rьckzugsort, auf dessen Mooswiesen Steinpilze sprieЯten.
Gelegentlich fiel das Plдtschern der aus dem FluЯ springenden Fische in den Vogelgesang, und ich schaute auf die Kreise im Wasser. Mir kam der Gedanke, daЯ es ein Paradies fьr alle einfach nicht geben kann. Kann man sich ein Paradies fьr alle Kolchosbauern vorstellen (auch unter ihnen wird sich immer wenigstens einer finden, der nicht “normal” ist)? Oder ein Paradies fьr alle Ukrainer? Und wenn du Individualist bist? Was fьr ein kollektives Paradies kann dich dann befriedigen? Keines. Das heiЯt dein Weg ist in die andere Richtung – in die Hцlle. Was aber, wenn du in deinem Individualismus weniger gesьndigt als andere in ihren Kollektiven, Parteien, Blцcken, Armeen und Sekten – was dann? Aber wer mehr und wer weniger, ist zu entscheiden uns nicht gegeben.
Der Bug trug meine Gedanken davon. Vor mir erhoben sich die hohen und steilen Ufer des Flusses, aus denen inmitten saftigen Grьns Granitbrocken von unnatьrlich rotbrauner Farbe hervorkrochen. Ein Mittelding zwischen japanischen Steingдrten und дgyptischen Pyramiden, wobei erstere aber zu klein und zweitere zu geometrisch sind.
Hitler hat diesen Ort fьr sein цstliches Hauptquartier ausgewдhlt. Sicher kein Zufall. Gott sei Dank konnte aber selbst er ihn durch seine Anwesenheit nicht entweihen.
Unter der alten Linde sitzend erinnere ich mich, wie ich hier Botschaften von Sonja, die zehn Jahre дlter war als ich, an ihren Geliebten ьbergeben hatte, selbst ьber beide Ohren in sie verliebt.
Die ersten Fischer kamen zum FluЯ, in Gummistiefeln und Matrosenjacken.
Und ich ging langsam durch die Gдrten zu unserem frьheren Haus.
Zu jener Zeit war ich lockenkцpfig, kontaktfreudig und rдtselhaft, so daЯ mir der neue Hausherr unseres Hauses, ein Bergmann, ohne langes Gerede sofort erlaubte, auf den Dachboden zu kriechen, um Dokumente und Photos zu suchen, die dort noch lagen.
Wieder in Lwow entrollte ich vor meinem Vater das staubige Bьndel mit unserem Familienarchiv: Photos und Briefe, Bilder, Zeichnungen, Aquarelle, die mir alle nichts sagten. Meines Vater Blick war eher in die Vergangenheit gerichtet als in die Gegenwart. Er sagte kein Wort, begrub das Gesicht in seinen Hдnden und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, daЯ er weinte. Dann verstand ich plцtzlich, daЯ er sich in sein Paradies keine Fahrkarte kaufen konnte – ihm hдtte dies niemand verkauft. Und das Paradies war fьr ihn nur noch der Duft der Zeit.
In dieser Nacht weinte auch ich. Heimlich, unter der Decke. Aber vor ьberschwenglichem Glьck, daЯ ich meinen Vater verstehen konnte.
Stryjskij-Park Mandala fьr die Oberkommandierenden Rehabilitation Der Bunker Dieser Text auf russisch